Sehr geehrter Herr Diabetes,
hiermit kündige ich das bestehende Untermietverhältnis fristlos zum nächstmöglichen Zeitpunkt.
Sicherlich sind Sie verwundert, warum ich nach 22 Jahren fristlos kündige. Daher einige Sätze dazu, was mich zu meiner Entscheidung bewogen hat.
Ich habe Vieles durch Sie gelernt, habe schöne Erfahrungen gesammelt und tolle Menschen kennen gelernt. Dafür möchte ich mich auch bei Ihnen bedanken. Trotzdem stört mich Ihre pausenlose Anwesenheit enorm. Immer sind Sie um mich herum, wollen bespaßt und beschäftigt werden. Meinen mehrfachen Bitten, mich nur mal für einige Stunden oder Tage in Ruhe zu lassen, haben Sie einfach ignoriert. Ich hätte mir von Ihnen gewünscht, dass Sie nicht immer nur sich in den Mittelpunkt stellen. Ihre Kooperations- und Kompromissbereitschaft geht aber leider gegen null. Hinzu kommt, dass Sie selbst zwar keine Langeweile mögen – oder warum sonst sorgen Sie dafür, dass unter anderem das Insulin, die Kohlenhydrate, das Eiweiß und Fett, die Hormone jeden Tag eine andere Wirkung auf meinen Blutzuckerspiegel haben – aber im Grunde Ihres Herzens ein Langweiler sind. Liege ich mit dieser Vermutung falsch, so erklären Sie mir doch bitte, warum Sie es am meisten mögen, wenn meine Tage etwas Gleichmäßiges und Kalkulierbares haben? ….
Ich habe versucht, diesen Brief zu schreiben. Eigentlich fällt mir das Schreiben nicht schwer. Was ja schon mal gut ist, denn sonst hätte ich irgendwie Probleme mit dem Bloggen 😉 Aber als ich den Brief geschrieben habe, habe ich immer und immer wieder von vorne angefangen, Geschriebenes wieder gelöscht, Pausen gemacht, nachgedacht. Ich hatte eine richtige Schreibblockade und habe den Brief deshalb einfach nicht fertig geschrieben. Und warum?
Wahrscheinlich liegt es daran, dass ich dem Diabetes zwar schon dankbar bin, dass er dazu beigetragen hat, dass ich ich bin. Aber eigentlich habe ich die Schnauze von ihm gestrichen voll. Ja, ganz ehrlich. Er nervt mich. Mal mehr, mal weniger. Aber er nervt mich immer. Auch wenn ich mich natürlich über gute Werte und die medizinischen und technischen Errungenschaften der letzten Jahre freue, bereitet er, also der Diabetes, mir keine Freude. Er ist einfach eine Nervensäge und ein Ärgerlappen. Und es freut mich nicht, mir immer diabetische Gedanken zu machen. Es freut mich auch nicht, die Pumpenkatheter zu wechseln und die Pumpe zu tragen. Auch diese hässlichen Körpergefühle, die mit Hypos und Hypers verbunden sind, erfreuen mich nicht. NEIN, wirklich nicht. ABER: Auch wenn der Diabetes mir keine Freude bereitet und ich mich daher auch nicht bei ihm bedanken kann und will, will und kann ich auch keine Hasstriade – die dazu geeignet wäre, auszudrücken, was mich am Diabetes so richtig ankotzt – zu schreiben. DENN: er ist ja mehr oder weniger ein Teil von mir. Es gibt mich nicht ohne Diabetes. Er gehört zu meinem Leben und das ist einfach wunderbar. Also kann und will ich ihm auch nicht kündigen.
Du drückst meine Gefühle so aus, als ob Du mich und meinen Lebenspartner kennen würdest. Ich kann Dir versichern, auch nach 43,5 Jahren haben wir das gleiche Verhältnis zueinander wie Du und Dein Untermieter. Allerdings habe ich ihn als Partner, wenn auch problematischen, akzeptiert.
Ihn zu akzeptieren, auch wenn er nervt, ist wohl der einzige Weg. So sehe ich das auch